
Plattformen wie SHEIN und TEMU haben den internationalen Handel in kürzester Zeit auf den Kopf gestellt. Mit extrem niedrigen Preisen, rasanten Produktzyklen und Direktversand von der Fabrik zur Kundschaft setzen sie neue Maßstäbe – zu einem Preis der deutlich unter dem des klassichen Einzelhandels liegt.
Dieser Beitrag beleuchtet, wie diese Plattformen etablierte Lieferketten unter Druck setzen – indem sie klassische Beschaffungsprozesse umgehen, logistische Infrastrukturen überlasten und Risiken entlang der Wertschöpfungskette nach unten verlagern. Er zeigt auf, was das für Unternehmen bedeutet, die in diesem veränderten Wettbewerbsumfeld bestehen wollen.
Ein kurzer Blick auf die Geschäftsmodelle
SHEIN und TEMU haben sich innerhalb kürzester Zeit als dominante Akteure im globalen Onlinehandel etabliert – wenn auch mit grundverschiedenen, aber gleichermaßen disruptiven Geschäftsansätzen.
SHEIN setzt auf ein zentral gesteuertes, datenbasiertes Produktionssystem. Modetrends werden mithilfe algorithmischer Auswertung von Nutzerverhalten auf Social Media und Online-Plattformen erkannt und innerhalb weniger Tage in neue Produkte überführt. Die Fertigung erfolgt in kleinen Stückzahlen über ein eng angebundenes Netzwerk chinesischer Zulieferer. So kann das Unternehmen schnell auf Nachfrage reagieren und Überbestände vermeiden – allerdings zulasten von Transparenz und mit erheblichem Druck auf Lieferanten.
TEMU hingegen fungiert als Vermittlungsplattform im Direktvertrieb. Kunden bestellen direkt bei Tausenden von Herstellern, TEMU selbst übernimmt kaum Verantwortung für Produktionsprozesse oder Qualitätssicherung. Mithilfe von Skaleneffekten, staatlich geförderten Transportlösungen und digital gesteuerter Logistik ermöglicht die Plattform einen schnellen und günstigen Warenfluss – allerdings auf Kosten von Kontrolle und Nachvollziehbarkeit in der Lieferkette.
Beide Plattformen setzen auf einen niedrigen Preis und ein hohes Volumen – und schaffen damit Lieferketten, die zwar effizient erscheinen, in der Praxis jedoch fragmentiert und operativ hochkomplex sind.
Fragmentierte Logistik und fehlende Kontrolle
Einer der gravierendsten Effekte der Geschäftsmodelle von TEMU und SHEIN ist das enorme Volumen an niedrigpreisigen Direktlieferungen aus China. Diese blockieren zunehmend Luftfrachtkapazitäten, sodass selbst etablierte Unternehmen Schwierigkeiten haben, ausreichend Frachtraum zu sichern. Parallel dazu stößt die letzte Meile an ihre Grenzen: Allein in den USA treffen täglich über eine Million solcher Sendungen ein – mit erheblichen Auswirkungen auf Postdienste, Zollabfertigung und Zustellung.
Bis vor Kurzem fielen viele dieser Sendungen unter die sogenannte De-minimis-Regel, die Waren im Wert von unter 800 US-Dollar von Zöllen und umfassender Kontrolle befreite. Ab dem 2. Mai 2025 wird diese Ausnahme eingeschränkt – doch die Folgen sind bereits sichtbar: überforderte Systeme, mangelhafte Rückverfolgbarkeit und ein klarer Wettbewerbsvorteil für volumengetriebene Plattformen. In der EU besteht eine vergleichbare Regelung weiterhin: Sendungen unter 150 Euro sind von Zöllen befreit, was nicht nur eine Umgehung finanzieller und regulatorischer Kontrollen begünstigt, sondern auch die Durchsetzung gemeinsamer Umwelt- und Sozialstandards erschwert.
Gleichzeitig fehlt es an wirksamer Kontrolle entlang der vorgelagerten Lieferketten. Ohne transparente Herkunftsangaben lassen sich gesetzliche Vorgaben kaum durchsetzen. Die Kombination aus logistischer Fragmentierung und fehlender Regulierung führt zu einem strukturellen Ungleichgewicht: Die Plattformen agieren schnell – Verantwortung und Kontrolle bleiben zurück.
Transparenzlücken und Arbeitsrechtsrisiken
TEMU und SHEIN stützen sich auf weit verzweigte, oftmals anonyme Lieferantennetzwerke. Aufgrund fehlender Einblicke in Beschaffungs- und Produktionsebenen ist eine systematische Sorgfaltspflicht kaum umsetzbar. Audits, Zertifizierungen und Rückverfolgbarkeitsstandards werden häufig umgangen oder gar nicht erst eingefordert.
Dieser Mangel an Kontrolle begünstigt schwerwiegende Arbeitsrechtsverletzungen – etwa unzureichende Entlohnung, exzessive Arbeitszeiten oder mangelhafte Sicherheitsstandards. Unter konstantem Preis- und Zeitdruck sehen sich viele Zulieferer gezwungen, Abstriche bei Sozial- und Umweltstandards in Kauf zu nehmen. Statt als strategisches Steuerungsinstrument wirkt nachhaltige Beschaffung nur noch nachgelagert und reaktiv. Die Verantwortung verteilt sich auf ein unübersichtliches Netz von Akteuren und ist kaum eindeutig zuzuordnen.
Während klassische Lieferketten zunehmend an ESG-Vorgaben und menschenrechtliche Sorgfaltspflichten gebunden sind, bewegen sich TEMU und SHEIN in regulatorischen Grauzonen. Das verschafft ihnen zwar einen Geschwindigkeitsvorteil, untergräbt jedoch das Vertrauen in verantwortungsvolle Lieferketten und bringt langfristige Risiken mit sich.
Druck auf klassische Lieferketten
Kleine und mittelständische Unternehmen sowie Hersteller, die in regulierten Lieferkettenstrukturen arbeiten, haben zunehmend Schwierigkeiten, mit dem Tempo und den Preisen von Plattformen wie TEMU und SHEIN mitzuhalten. Dank staatlich subventionierter Transportwege, logistischer Skalenvorteile und vormals geltender Steuervorteile können diese Anbieter Liefergeschwindigkeiten und Preispunkte realisieren, die für viele Marktteilnehmer kaum erreichbar sind.
Für viele Unternehmen entsteht dadurch ein Marktstandard, der wirtschaftlich kaum tragfähig ist. Neben dem reinen Preisdruck erschwert auch die wachsende Volatilität in der Absatzplanung die Steuerung – insbesondere, da sich Konsument:innen zunehmend an sofortige Verfügbarkeit gewöhnen.
📌 Strategische Handlungsoptionen für betroffene Unternehmen:
- Mit Transparenz und Verantwortung punkten: Rückverfolgbarkeit, faire Arbeitsbedingungen und Nachhaltigkeit klar kommunizieren.
- Bestände und Prognosen optimieren: Digitale Tools zur Bedarfsplanung und Lagersteuerung einsetzen, um schneller und effizienter zu reagieren.
- Kundenbindung stärken: Authentisches Storytelling und gelebte Markenwerte schaffen Vertrauen und Differenzierung
Auch wenn Plattformen wie TEMU und SHEIN strukturelle Vorteile behalten werden, haben Unternehmen, die auf strategische Klarheit, operative Flexibilität und glaubwürdige Lieferketten setzen, deutlich bessere Chancen, sich in einem dynamischen Marktumfeld zu behaupten.
Was sich ändern muss
Der Aufstieg von TEMU und SHEIN hat zentrale Schwachstellen moderner Lieferketten offengelegt – von fehlender Agilität bis hin zu mangelhafter Compliance. Doch anstatt auf Geschwindigkeit und niedrige Kosten zu setzen, sollten Verantwortliche in der Lieferkette den Fokus neu ausrichten: auf Resilienz, Transparenz und langfristige Wertschöpfung.
Nearshoring, intelligente Planung und verantwortungsvolle Beschaffung sind dabei nicht nur Reaktionen auf den Wandel – sondern strategische Erfolgsfaktoren. In einem Umfeld, das zunehmend durch Disruption geprägt ist, werden sich jene Lieferketten behaupten, die auf Stabilität, Nachvollziehbarkeit und Vertrauen setzen.